Der Tagträumer by McEwan Ian

Der Tagträumer by McEwan Ian

Autor:McEwan, Ian [McEwan, Ian]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257606379
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-04-14T16:00:00+00:00


[96] 5

Der Einbrecher

Alle Nachbarn sprachen von dem Einbrecher. Vor Monaten war er in ein Haus am unteren Ende der Straße eingebrochen. An einem sonnigen Nachmittag, als niemand zu Hause war, hatte er sich bei vollem Tageslicht durch ein Hinterfenster gezwängt und sich mit Messern, Gabeln und einem Gemälde aus dem Staub gemacht. Jetzt arbeitete er sich langsam die Straße hinauf, erst ein Haus auf der einen Seite, dann eins auf der anderen.

Der hat vielleicht Nerven! sagten die Leute. Den erwischen sie bestimmt! Gestern nacht hat er sich Nummer acht vorgenommen, nächste Woche kommt Nummer neun an die Reihe.

Aber nein, er wartete drei oder vier Wochen, übersprang die Nummer neun und brach statt dessen in Nummer elf ein. Dann kam er gleich am nächsten Tag wieder und raubte Nummer zwölf aus. Er stahl Fernsehapparate, Videogeräte, Computer, Statuetten, Juwelen. Er wußte Schlösser zu knacken, Regenrohre hochzuklettern, [97] Alarmanlagen lahmzulegen, Fensterhaken zurückzuschieben, sich mit Hunden anzufreunden und sich am hellichten Tage mit seiner Beute davonzustehlen, ohne je gesehen zu werden. Er war ein Magier, ein Maestro des Diebstahls. Er war unsichtbar, lautlos und schwerelos. Auf den Gartenbeeten hinterließ er keine Fußspuren und an den Türklinken keine Fingerabdrücke.

Die Polizei stand vor einem Rätsel. Zwei Kriminalbeamte in Zivil wurden ausgesandt, um von einem nicht näher gekennzeichneten Fahrzeug aus die Straße im Auge zu behalten. Jeder wußte, wer sie waren. Sie saßen in ihrem Auto, füllten Kreuzworträtsel aus und verzehrten ihr Vesperbrot, bis sie zu dringlicheren Aufgaben wegbeordert wurden. Eine halbe Stunde später schlug der Einbrecher wieder zu, schleppte eine Schachtel teurer, parfümierter Seife und einen Spazierstock mit silbernem Knauf aus dem Haus von Frau Spielgut, einer reichen alten Dame mit vorstehenden gelben Zähnen, die allein lebte. Der Stock hatte ihrem Urgroßvater gehört, einem notorisch grimmigen Missionar. Die afrikanischen Kinder hatte er regelmäßig verprügelt, wenn sie ihre Bibellektionen nicht lernen wollten.

»Das war ein wertvolles Erinnerungsstück!« jammerte Frau Spielgut, als sie vorbeikam, um [98] Peters Mutter die Neuigkeiten mitzuteilen. »Im neunzehnten Jahrhundert ist er dreimal mit ihm um die Welt gereist! Und meine Seife, meine kostbare Seife!«

»Bin ich froh, daß er diesen miesen Stock mitgenommen hat«, sagte Peter zu Tina, nachdem Frau Spielgut gegangen war. »Ich hoffe, der Einbrecher zerbricht ihn über seinem Knie.«

Tina nickte heftig. »Ich wünschte, ihre Zähne hätte er auch gleich mitgehen lassen!« Die Sache war nämlich die, daß Frau Spielgut trotz ihres spaßigen Namens bei den Kindern in der Straße nicht gut angeschrieben war. Sie war eine von diesen gar so seltenen unglücklichen Erwachsenen, die sich durch die bloße Existenz von Kindern zutiefst irritieren lassen. Wenn sie draußen spielten, schrie sie sie von ihrem Fenster an: »Treibt euch nicht immer vor meinem Haus herum!« Sie war der festen Meinung, daß die Kinder den Unrat, den der Wind auf ihr Grundstück wehte, mutwillig dort hingeworfen hätten. Wenn ein Ball oder ein Spielzeug in ihrem Garten landete, kam sie aus der Tür herausgeschossen und beschlagnahmte alles, was immer es war. Immer war sie schlechter Laune, und davon, daß die Kinder sie neckten, wurde diese auch nicht besser.



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